Im Mission District von San Francisco dient die Station 40 der Gemeinschaft der Bay Area seit fast zwei Jahrzehnten als antiautoritärer kollektiver Lebens- und Organisationsraum. Vor fünf Jahren versuchte ihr Vermieter, sie zu vertreiben – um dann durch eine starke koordinierte Solidaritätskampagne zum Rückzug gezwungen zu werden. Jetzt hat Station 40 die Initiative ergriffen, um auf die Krise zu reagieren, die sich derzeit weltweit abspielt, und hat als Reaktion auf die durch die COVID-19-Pandemie verursachte wirtschaftliche Prekarität einseitig einen Mietstreik ausgerufen. Wir haben die Bewohner*innen von Station 40 über die Geschichte ihres Projekts und den Kontext und das Ziel ihrer mutigen Verweigerung befragt.
Was ist Station 40?
Die Station 40 ist ein 17 Jahre alter kollektiver Lebensraum, der im Laufe der Jahre Hunderte von Bewohner*innen und Tausende von Gästen und viel Durchlauf erlebt hat. In diesem Raum wurden zahlreiche und vielfältige Veranstaltungen durchgeführt, unzählige Menschen untergebracht, Essen serviert und alle Bedrohungen, von Schädlingsbefall bis zu Vertreibungen, gemeistert. Wir waren ein Zentrum für die Organisation von Workshops zur gegenseitigen Hilfe, Heilungs-Seminare, Gedenkveranstaltungen für gestorbene Anarchist*innen, Feiern, Buchveröffentlichungen, für den Austausch von zig Gefährt*innen aus aller Welt, für Projekte zur Unterstützung von Gefangenen, Lesegruppen, für mehr Projekte als wir zählen können. Seit 15 Jahren wird hier wöchentlich Food not Bombs gekocht. Kommunikationsinfrastrukturen wie Indymedia und Signal haben hier ihre Wurzeln.
Wir hoffen, diese sich ständig weiterentwickelnde Arbeit fortsetzen zu können und legen gerade jetzt einen Schwerpunkt auf den bereits bestehenden Geist der Anarchie der Station 40 und unseres Blocks im Allgemeinen. Dieser Raum gibt uns die Möglichkeit, es uns weiterhin leisten zu können, in einer Stadt zu leben und zu kämpfen, in der das immer unerschwinglicher wird.
Vor fünf Jahren mobilisierten Leute, um die Station 40 gegen die durch die Gentrifizierung verursachte Vertreibung im Mission District San Francisco zu verteidigen. Welche Faktoren und Strategien waren für den damaligen Sieg wesentlich? Habt ihr daraus etwas Wichtiges gelernt?
Zu dieser Zeit gab es in San Francisco einen großen Entwicklungsschub. Als Reaktion auf den Zustrom von Risikokapitalgebern und Start-up-Unternehmen suchten unsere Vermieter nach schnellem Kapital, indem sie ihre Immobilienkonstellation für schnelles Geld verkauften. Das »Monster der Mission« – ein riesiger Klotz mit Luxuswohnungen, der sich nicht von den anderen aufkommenden Bauvorhaben unterschied – sollte auf der anderen Straßenseite errichtet werden; die Immobilienpreise stiegen in die Höhe.
Wir hatten einen Pro-Bono-Anwalt, der uns geholfen hat, aber letztendlich wollte der Anwalt, dass wir uns einigen und auszahlen lassen – eine Auszahlung, die niemals langfristig erschwinglichen Wohnraum im Herzen dieser Stadt aufwiegen würde. Die Bewohner*innen, die zu dieser Zeit in Station 40 zusammenlebten, beschlossen, stattdessen hier zu bleiben. Sie wendeten eine Vielzahl von Taktiken an, wie z.B. die Aufforderung an Freund*innen von Station 40 aus der ganzen Welt (eine autonome Gruppe von Unterstützer*innen), »den Feind zu kennen« (Informationen über unsere Vermieter über öffentliche Aufzeichnungen sammeln), die Durchführung einer Pressekonferenz und von Veranstaltungen und Spendensammlungen, die Beratung mit militanten Wohnraumaktivist*innen und mit dem örtlichen Land Trust sowie die Koordination mit unterstützenden unabhängigen Journalist*innen.
Wir verlangten, dass das Gebäude in einen Land Trust eingebracht wird und dass unser Wohnsitz auf Dauer gesichert wird. Wir machten auch klar, dass wir mit allen Mitteln dafür kämpfen würden, hier zu bleiben. Zwei Wochen nach Beginn des Kampfes riefen uns unsere Vermieter an und wollten Frieden schließen; dies führte zu einer mündlichen Vereinbarung, uns in Ruhe zu lassen und das Thema in drei Jahren wieder aufzugreifen.
Heute ist das fünf Jahre her. Die ganze Zeit über waren die Bewohner*innen hier in Alarmbereitschaft und haben sich gleichzeitig dafür entschieden, unsere Lebensqualität zu erhalten, indem wir uns nicht zu sehr auf mögliche unvorhersehbare Ergebnisse konzentrieren – vor allem angesichts der Tatsache, dass wir schon einmal eine Räumungsdrohung überstanden haben. Erst kürzlich wurde bekannt gegeben, dass das »Monster der Mission« offiziell nicht gebaut wird. Zwei Jahre nach unserem ausgehandelten Verhandlungstermin haben die Vermieter ihre Schecks weiterhin mit Freude eingelöst.
Bis jetzt.
Hier wird über unseren Kampf gegen die Vertreibung im Jahr 2015 berichtet:
– Pressekonferenz der Freund*innen der Station 40
– Mieter*innen kämpfen im 16. und der Mission gegen den langjährigen Vermieter der Nachbarschaft
– Wohnkollektiv verhindert Vertreibung aus dem Haus des Mission District
Warum habt ihr euch nun entschlossen in Streik zu treten?
Das Coronavirus begann zunächst über Meme, flüchtige Geschichten in den Nachrichten und Gerüchte von Freunden von Freundinnen in sozialen Einrichtungen in diesen Gegenden Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wir begannen schon früh, auf das Geflüster zu hören und bereiteten uns so gut wie möglich vor. Nicht mal eine Woche später kam die Nachrichten aus Italien, Reiseverbote wurden verhängt und – am auffälligsten – das Toilettenpapier war verschwunden.
Innerhalb weniger Tage wurden alle Veranstaltungen abgesagt, Bars und Restaurants geschlossen und eine weiche Quarantäne eingeleitet. Zu diesem Zeitpunkt hatten 90 % des Hauses entweder vollständig ihre Arbeit verloren oder ihre Arbeitszeit wurde erheblich reduziert. Gleichzeitig werden die anderen 10% aufgefordert, doppelt so hart im Sozialdienst zu arbeiten, um diese Krise zu bewältigen – aber sie werden für ihre zusätzlichen Stunden nicht mehr bezahlt. Diese Krise hat ein grelles Licht auf die Ungerechtigkeiten in Bezug auf die Ungleichheit der Wohnverhältnisse, das Fehlen einer bezahlbaren medizinischen Versorgung, die astronomischen Kosten für die Miete in der Bay Area und die Art und Weise, wie der Kapitalismus uns unsere Zeit, Energie und Lebensqualität raubt, geworfen.
Als diese Situation deutlich wurde, blieb keine andere Wahl, als einen Mietstreik auszurufen. Der Versuch, während eines verordneten Hausarrestes irgendwie an Geld zu kommen, bringt nicht nur uns in Gefahr, sondern gefährdet auch andere, die verwundbarer sind.
Dies eröffnet jedoch eine größere Frage. Einige Hochrechnungen besagen, dass es nach einigen Wochen dieses Shutdowns (auch wenn er länger dauern mag) keine Möglichkeit gibt, zum »business as usual« zurückzukehren. Als Anarchist*innen, als Kollektiv, müssen wir uns vorstellen, was als nächstes kommen könnte, und das tun, was nötig ist, um am Aufbau dieser neuen Realität mitzuwirken. Die Befreiung von Miete (die mensch auch Diebstahl nennen könnte) und Schulden inmitten einer ausgewachsenen Pandemie-Krise schien der beste Weg zu sein, um damit zu beginnen. Wir glauben, dass die einfachen Taktiken der Verweigerung (Mietstreik, Krankschreiben, Umverteilung von Ressourcen, gegenseitige Hilfe) wesentlich sind, um diese Situation zu überwinden. Wir hoffen, dass sich der Mietstreik ausbreitet. Wir haben die besten Chancen auf ein gemeinsames Überleben und einen gemeinsamen Sieg.
Wie ist eure Vision, wie wir auf die Pandemie und die damit einhergehende soziale, politische und wirtschaftliche Krise reagieren sollen? Was ist das schlimmste Szenario? Was ist das beste Szenario?
Es scheint, dass die bestmögliche Antwort auf die erste Frage darin besteht, dass wir ein Gleichgewicht finden müssen. Wir müssen ein Gleichgewicht finden zwischen der Sorge um uns selbst und dem Verständnis dafür, welche Formen der gegenseitigen Hilfe wir teilen müssen. Wir werden in Angst, Trennung und Betroffenheit über gefühlte Knappheit und über eine Pandemie, die wir nicht heilen können, gedrängt. Die größte Stärke unseres Hauses und unserer Gemeinschaft sind seit jeher unsere vertrauensvollen Verbindungen. Wenn mensch eine Gemeinschaft hat, für die mensch bereit ist einzustehen, der mensch vertrauen kann, dass sie sich für einen einsteht, dann hat man das Gefühl – den Glauben – dass alles in Ordnung kommen kann. In Zeiten wie diesen können Hoffnung und Glaube zu den wenigen Dingen gehören, die uns am Leben erhalten.
Die einfachsten Dinge, die mensch sich im Moment vorstellen kann, sind Worst-Case-Szenarien: überfüllte Krankenhäuser, die Nationalgarde, die eingeflogen wird, um gewaltsam Straßensperren durchzusetzen, zahllose Todesfälle, die durch Händeschütteln und Husten verursacht werden, die Unfähigkeit, auf unabsehbare Zeit zu arbeiten oder sozial zu interagieren, ein durch und durch dystopischer, biopolitischer Autoritarismus.
Aber für uns ist es interessanter und aufregender, darüber nachzudenken, was die besten Szenarien sein könnten – die Momente der Phantasie und der Schöpfung – wie eine Raupe, die sich in ihrem Kokon auflöst und sich in einen Schmetterling verwandelt. Stellt euch eine Welt ganz ohne Miete vor, in der die Menschen mehr Zeit und Raum hätten, um sich den Dingen, die sie lieben, zu widmen; den Dingen, die ihnen und ihrer Gemeinschaft zugute kommen. Stellt euch vor, es gäbe null Obdachlosigkeit in der Welt, weil wir die derzeit zur Verfügung stehenden großzügigen leeren Wohnungen den Wohnungslosen überlassen, anstatt diese Räume leer stehen zu lassen, während Immobilienspekulanten darauf warten, sie an den Höchstbietenden zu verkaufen. Wie wäre es, wenn wir nicht 40 bis 70 Stunden pro Woche als kapitalistisches Rädchen arbeiten müssten, um Geld für reiche Leute zu verdienen, denen es egal ist, ob wir leben oder sterben?
Stellt euch vor, keine*r hätte lähmende Schulden. Stellt euch vor, es gäbe kostenlose medizinische Versorgung und Nahrung für alle, anstatt dass wir unser ganzes Geld zur Finanzierung von Kolonisierung und Mord weltweit ausgeben müssten. Wie wunderbar wäre es, wenn die Menschen auf die Straße gingen, sich zum Tanzen, Brotbrechen, zum praktizieren von Ritualen treffen würden… ehrlich gesagt, die Möglichkeiten sind endlos. Ich stelle mir eine gesündere Bevölkerung vor, die die Erde und alle Lebewesen respektiert, die das Land wieder seinen indigenen Verwalter*innen zurückgibt, Reparationen für alle versklavten Völker, das Ende der Gefangenschaft und des gesamten militärisch-industriellen Komplex.
Aber irgendwo müssen wir anfangen. Ein weit verbreiteter Mietstreik scheint ein guter Ausgangspunkt zu sein, wie jeder andere auch.
Wir unsererseits möchten, dass unsere Wohnungen auf Dauer gesichert sind – sei es durch einen Land-Trust oder durch andere kommunale Mittel. Wir denken, dass jetzt die Zeit gekommen ist, darauf zu drängen.
Anhang I: Kommuniqué über den Mietstreik, 16. März 2020
Liebe Freund*innen der Station 40,
Die Dringlichkeit des Momentes erfordert entschlossenes und kollektives Handeln. Wir tun dies, um uns selbst und unsere Gemeinschaft zu schützen und für sie zu sorgen. Mehr denn je lehnen wir Schulden ab, und wir weigern uns, uns ausbeuten zu lassen. Wir werden diese Last für die Kapitalist*innen nicht schultern. Vor fünf Jahren haben wir den Versuch unseres Vermieters, uns zu vertreiben, vereitelt. Wir gewannen dank der Solidarität unserer Nachbar*innen und unserer Freund*innen in der ganzen Welt. Wir appellieren erneut an dieses Netzwerk. Unser Kollektiv fühlt sich auf die Haus-Quarantäne vorbereitet, die um Mitternacht in der gesamten Bay Area beginnt. Der sinnvollste Akt der Solidarität ist für uns in diesem Moment, dass alle gemeinsam in den Streik treten. Wir werden euch den Rücken freihalten, so wie wir wissen, dass ihr uns den Rücken freihalten werdet. Ruht euch aus, betet, kümmert euch um einander.
Alles für Alle
Die Bewohner*innen der Station 40
Anhang 2 ist das »Communiqué from the Anti-Eviction Campaign, March 2015«
Ihr findet es im englischen Originaltext